Alles zu meiner Zeit

Alles zu meiner Zeit

Mit Yogakursen, gesundem Kantinenessen oder einem Dienstfahrrad allein, lässt sich keine junge Fachkraft mehr erfolgreich umwerben. Das überzeugendste Argument ist eine freie Einteilung der Arbeitszeit.
Für #start hat unsere Reporterin Lisa Pausch Beschäftigte getroffen, die teils Freizeit, teils Freiheit gewonnen haben.

Was ist besser: 40 Euro netto mehr im Monat oder sechs Urlaubstage im Jahr? Lukas Künzel muss nicht lange überlegen. „Wenn ich es Kosten-Nutzen-mäßig betrachte, ist es mir das Geld nicht wert.“ Der 23-Jährige ist Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Bahn und fährt S-Bahnen durch das Rhein-Main-Gebiet.
Rund 130 000 Angestellte der DB hatten 2017 die Wahl zwischen 2,6 Prozent mehr Geld, sechs Urlaubstagen oder einer Stunde weniger Arbeit pro Woche. Mehr als die Hälfte wählte den Urlaub. Auf dieses Modell hatte sich die DB mit den Gewerkschaften geeinigt. Inzwischen läuft die zweite Runde für die Zeit ab 2021. Lukas Künzel kommt so in nur drei Jahren auf zwölf zusätzliche freie Tage. „Ich mache gerne Städtetrips und nehme mir lieber regelmäßig ein bis zwei Wochen frei.“ Der Wunsch, weniger zur arbeiten, ist nicht neu. Die IG Metall setzte für Beschäftigte der Metallindustrie bereits in den 90er-Jahren eine reguläre 35-Stunden-Woche durch. Die Forderungen nach dauerhaft reduzierten und flexiblen Arbeitszeiten seien heute jedoch lauter, beobachtet Philipp Staab. Der Soziologe forscht an der Berliner Humboldt-Universität zur Zukunft der Arbeit. „Zum einen gibt es unter den Jüngeren mehr Akademiker als früher, was für sich schon eine Triebfeder für Forderungen nach mehr Autonomie in der Arbeit und eben auch in der Arbeitszeit ist.“ Gerade Menschen mit hohen Bildungsabschlüssen könnten mit mehr Rückenwind rechnen. Zudem habe die Erwerbsbeteiligung von Frauen zugenommen. „Damit werden Fragen um die Verteilung von Sorgearbeit gesellschaftliches und politisches Thema“, so Staab. Der Experte spricht damit ein Phänomen an, das schon vor der Corona-Krise eine Herausforderung war und sich durch die Pandemie noch verschärfte. Denn die Seuche hat den Druck, neue, flexible und individuelle Lösungen in der Arbeitswelt zu finden, noch mal um Einiges erhöht.

Die eigene Chefin sein
Im Spiel um den flexibelsten Arbeitsplatz überhaupt scheint Cordelia Röders-Arnold den Joker gezogen zu haben. Die 32-Jährige wohnt im Hamburger Umland und arbeitet beim Kondomhersteller Einhorn in Berlin. Über ihre Möglichkeit zu pendeln und die „schwarze Mamba“ habe das gesamte Team abgestimmt, sagt sie und zückt ihre Bahncard 100. „Im Gegenzug habe ich mich dafür eingesetzt, dass alle anderen hier ein Monatsticket für den Nahverkehr erhalten.“ Im Kreuzberger Hinterhof, der „Einhorn-Höhle“, gilt: Sei deine eigene Chefin. Zeiterfassung gibt es nicht und auch keinen vertraglich geregelten Urlaub. „Ich weiß überhaupt gar nicht, wie viel ich arbeite.“ Die Frau, die sich als „Head of Menstruation“ fast rund um die Uhr mit der Periode beschäftigt, überlegt. „Ich denke, es sind mindestens 40 Stunden.“ Sie und ihre Kolleginnen dürfen kommen und gehen, wann sie wollen und sich per Video auf Meetings zuschalten. Doch eine Vier-Tage-Woche hat hier niemand. Ob sie nicht zu wenig Urlaub nimmt?
„Ich nehme den, wenn ich mich danach fühle. Das ist so befreiend.“ Im vergangenen Jahr nahm sie 21 Tage für ihre Flitterwochen. „Den Rest habe ich nicht gezählt, aber es waren insgesamt mindestens sechs Wochen.“ Auf einer Messe habe eine Kollegin sie gefragt, wann sie den Samstag wieder freinehme. „Ich hatte gar nicht das Gefühl, als müsste ich mir den Tag zurückholen“, sagt Röders-Arnold. „Es gibt auch Tage, an denen mir der Elan fehlt. Dann mache ich eben um 14 Uhr Feierabend.“

„Ich mache gerne Städtetrips und nehme mir lieber regelmäßig ein bis zwei Wochen frei.“
Lukas Künzel (23),Triebfahrzeugführer bei der Deutschen Bahn

Schluss mit Überstunden
„Von denen, die gerne weniger arbeiten möchten, sagt mehr als ein Drittel, dass sie es aus finanziellen Gründen nicht machen“, so Anne Marit Wöhrmann, 36. „In zwölf Prozent der Fälle lässt der Arbeitgeber eine Verkürzung nicht zu.“ Für die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin  (BAuA) befragt die Arbeitspsychologin regelmäßig Beschäftigte nach ihren Arbeitszeitwünschen. Zwischen den Geschlechtern gebe es große Unterschiede. „Man sieht, dass bei Männern in verschiedenen Lebensphasen die gewünschte Arbeitszeit wenig schwankt. Es macht keinen großen Unterschied, ob er Kinder oder pflegebedürftige Angehörige hat, ob er jung oder alt ist. Bei Frauen ist das anders.“ Insgesamt sei der Anteil derjenigen, die länger arbeiten wollen, als sie es tatsächlich tun, unter den 15- bis 29-Jährigen am höchsten. Nur ein Viertel dieser Altersgruppe möchte in Teilzeit arbeiten. Bei den 30- bis 44-Jährigen hingegen wünscht sich schon jeder Dritte ein Teilzeitmodell - mehrheitlich Frauen.
Insgesamt würde mehr als die Hälfte der Vollzeitbeschäftigen gerne weniger arbeiten. Der Wunsch, zu reduzieren, komme vor allem daher, dass die Befragten keine Überstunden mehr machen wollen. „An vielen Stellen haben wir das Problem, dass die tatsächliche Arbeitszeit deutlich länger ist als die vertraglich geregelte.“ Bei flexiblen Arbeitszeitmodellen komme es daher auf Rahmenbedingungen an, sagt auch Verdi-Sprecher Norbert Reuter. „Das Einkommen muss gleich bleiben, und der Arbeitsdruck darf nicht noch weiter steigen. Burn-outs haben wir wahrlich bereits heute genug und die Tendenz ist steigend.“

4–Tage-Woche in der Wirtschaftskanzlei
Lange Arbeitszeiten, das wissen junge Jura-Absolventinnen, sind mitunter der Preis für eine Karriere in den großen Kanzleien: Bis zu 70 Stunden in der Woche, unbezahlte Überstunden. Einer Studie des Soldan-Instituts zufolge arbeiten Anwälte im Schnitt 51 Wochenstunden. Thomas Repka, 29, ist fest angestellter Anwalt in der Hamburger Wirtschaftskanzlei Rose & Partner. Ein Anwaltsbüro mit Blick auf die Alster und einem durchschnittlichen Gehalt von 120 000 Euro. Auch Repka machte die Überstunden mit als Referendar, arbeitete bis zu 60 Stunden wöchentlich: „Das konnte ich mir langfristig überhaupt nicht vorstellen“, sagt er heute. Für eine 40-Stunden-Woche kam er 2018 zu Rose & Partner.
„Hier werden Überstunden erfasst und entsprechend freigenommen“ – ein Alleinstellungsmerkmal in der Branche. Seit einem Jahr gilt ein neues Vollzeitmodell mit 36 Stunden. „Die meisten von uns haben jetzt eine Vier-Tage-Woche“, so Repka. Sein Chef arbeitet so schon seit Jahren. „Freitags haben wir immer eine Notbesetzung, ansonsten ist das Büro so gut wie leer.“ Die neue Freizeit nutze er für Behördengänge, Sport oder einen Fachanwaltskurs. Seit fünf Monaten ist der junge Anwalt Vater und geht demnächst für drei Monate in Elternzeit. Befreundete Kollegen reagierten vor allem mit Neid. „Viele in meinem Umfeld wollen die krassen Arbeitszeiten nicht mehr.“ Die Liste der Vorurteile gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Generation Y ist lang. Zu faul, zu spaßorientiert, zu wenig Biss. Eine Generation, die den Mangel der Nachkriegszeit nie erlebt hat und deswegen auf Sicherheiten wie „mein Job, mein Haus, mein Auto“ pfeift. Eine Generation, die den Arbeitsmarkt betritt wie der Papst den Petersplatz. Arbeitssoziologe Philipp Staab sagt, eher das Gegenteil sei der Fall. „Wir haben es mit Jahrgängen zu tun, für die Sicherheiten des Normalarbeitsverhältnisses der Nachkriegszeit nicht mehr gelten. Ihnen wurde das Mantra der Flexibilisierung gepredigt. Sie haben es offenbar auch in dem Sinne angenommen, dass sie es nicht als Einbahnstraße verstehen, die nur die Handlungsposition vom Arbeitgeber erhöht.“

Drei Monate auf der Schweizer Alb
Mathias Mohn – roter Pulli, Zehn-Tage-Bart und blonder Dutt – hat mit seinem Chef verhandelt. Der 33-jährige Ingenieur entwirft Fräsmaschinen für einen mittelständischen Betrieb. Nach dem Studium arbeitete er drei Jahre lang in Vollzeit und kündigte. „Ich war schon durch nach der Zeit.“ Mohn reiste auf die Philippinen, nach Japan und in die Schweizer Berge. Als die Firma ihn zurückwollte, setzte er neue Bedingungen. In diesem Jahr hat er 20 Tage regulär frei und darf bis zu vier Monate unbezahlten Urlaub nehmen. Den Großteil davon wird er wieder auf einer Schweizer Alb verbringen. Nicht als Tourist, sondern als Saisonhelfer: „Das ist jetzt mein Hobby, Kühe melken, Käse machen.“ Für einen 12-Stunden-Tag verdient er 2000 Euro netto, bei kostenfreier Kost und Logis. „Das ist fast der Lohn für einen normalen 7,5-Stunden-Tag hier und ich kann draußen arbeiten.“ Mathias Mohn sagt auch Sätze wie: „Ich brauche kein krasses Auto, kein Haus“ und „Ich bin manchmal im Sommer daheim und mache nichts.“ Er ist mit diesem Modell allein in seinem Betrieb, aber es kämen durchaus Kollegen zu ihm und sagten: „Du hast recht, Mathias.“
Gerade in hoch qualifizierten technischen Berufen, so Arbeitssoziologe Staab, gebe es extreme Spielräume und gleichzeitig ein entsprechendes berufsständisches Bewusstsein. „Die kennen ihre exzellente Arbeitsmarktsituation. Zum größeren Teil sind das Männer, sprich: Die Flexibilitätsgewinne sind hier zwischen den Geschlechtern nicht gleich verteilt.“

Freiheit oder Freizeit
New Work sei nicht für alle gleich maximaler Handlungsspielraum, warnt Anne-Kathrin Konze, 30. Die Personalerin hat am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der TU Dortmund (IfADo) zu psychischer Erschöpfung durch Selbstkontrolle bei der Arbeit geforscht. „Bereits in den 70er-Jahren galt das Job-Demand-Control-Modell und die Idee: Je mehr Handlungsspielräume, desto besser. So einfach ist das heute nicht mehr“, so Konze. Jeder Mensch habe andere Motive, „klassischerweise Leistung, Macht oder Anschluss“. In Start-ups mit jungen aufstrebenden Arbeitnehmern sei häufig ein weiteres, das Freiheitsmotiv, stärker ausgeprägt. Woanders könne Handlungsfreiheit auch belasten: „Nehmen wir Arbeitnehmer, die seit 20 Jahren feste Routinen gewohnt sind. Wenn wir denen den Rahmen nehmen und sie neue Abläufe lernen müssen, um mitzukommen, kann ihr Wohlbefinden gestört werden.“
Ortswechsel. Ein Familienbetrieb in Oberschwaben. Eine Stadt mit 2500 Einwohnern, hübsch an der Donau gelegen, Pferde traben über die Hügel. Das Unternehmen Späh stellt Dichtungen her und hat eine eigene Bushaltestelle. Vor dem Eingang hängt eine Europa- neben einer Regenbogenflagge. Allein dieses Zeichen ist so auffällig, dass die Schwäbische Zeitung ihm einen eigenen Artikel widmet.
In dieser Welt steht Lejla Späh wie ein „Paradiesvogel“, das sagt sie selbst so. „Wenn es nach mir geht, bin ich sowieso für die Freiheit für alle.“ Aber bei all den Schöne-neue-Arbeitswelt-Gedanken müssten die Zahlen eben stimmen.
Lejla Späh, 32, inzwischen verheiratet mit der Geschäftsführerin, war vor sieben Jahren die erste New-Work-Managerin hier. Nicht nur mit ihrer shabby Jeans zu herzapplizierten Sneakern versprüht sie eine Brise Start-up im Traditionsbetrieb. Sie schaffte Yogamatten an, einen Massagesessel, Tischtennis, Gymnastikbälle und kümmerte sich um kostenfreie Psychotherapie für Angestellte. Sie stellt die Drucker zentral auf, damit Mitarbeiter sich bewegen müssen, und im Sommer organisierte sie ein Festival mit Yoga und Vorträgen zum gesunden Leben.
Zuletzt begleitete ein Fernsehteam Mitarbeiter, die an einem Experiment teilnahmen. Ein Chronobiologe sollte herausfinden, ob sie früh oder spät aktive Typen sind und inwiefern sich Arbeitszeiten anpassen lassen. „Nach dem Experiment wurde die Gleitzeit verlängert“, erzählt Lejla Späh, „in der Produktion gehen die Maschinen nicht mehr Punkt sieben Uhr an, sondern zwischen sechs und acht. In der Verwaltung geht der Beginn der Gleitzeit sogar bis zehn Uhr.“ Marvin Schmidt, 28, ein Kollege und Frühstaufsteher, bemerkt: „Seitdem ich um sechs Uhr anfangen kann, hat Netflix morgens einen Zuschauer weniger.“
Aber eine Vier-Tage-Woche rechne sich nicht, ist Späh überzeugt. „Wenn wir dem Kunden sagen, unsere Personalkosten sind gestiegen, weil wir vier Tage in der Woche arbeiten und die Dichtung kostet jetzt mehr, dann sagt der Kunde doch auch: Spinnt ihr?“  
Lejla Späh weiß, dass das Unternehmen etwas tun muss, um junge Mitarbeiter zu halten und Neue anzulocken. „Unser Produkt ist total unsexy. Wenn man sagt, hey, wir machen Dichtungen, dann kriegt man natürlich nicht die flockigen, superkreativen Mitarbeiter.“ Auch die wünscht sie sich hier in Oberschwaben, mit Eigenverantwortlichkeit und Offenheit für Ideen, die auch mal „freaky“ sein können. „Die Start-ups suchen sich natürlich auch die Leute, die so ticken wie sie. Da haben wir im ländlichen Bereich keine Chance, wir sind hier in der Pampa“, sagt Späh und schaut aus dem Fenster. Sie könne sich auch nicht nur auf die jungen Leute konzentrieren, „wir haben hier drei
Generationen unter einem Dach“. Und vielleicht, überlegt sie, wolle die vierte Generation wieder etwas ganz anderes.